Am Wochenende begeht die Ukraine den 75. Jahrestag der von Stalin herbeigeführten Hungersnot von 1932/33. Die Erinnerungspolitik des Landes sei „obszön", sagen Kritiker. Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko weist das zurück: „Ich wollte der Opfer immer gemeinsam mit den Russen gedenken."
Herr Präsident, am Wochenende begeht die Ukraine den 75. Jahrestag der von Stalin herbeigeführten Hungersnot von 1932/33. Aber der russische Präsident Medwedjew hat ihre Einladung nach Kiew ausgeschlagen, weil seiner Meinung nach die ukrainische Führung die Erinnerung dazu missbraucht, das ukrainische Volk dem russischen zu entfremden.
Die Haltung des Präsidenten zur Tragödie, die sich damals zugetragen hat, ist alles andere als angemessen. In der Ukraine sind damals bis zu zehn Millionen Menschen gestorben. Es gibt praktisch keine Familie, die damals nicht Vater, Mutter oder Kinder begraben musste. Der Holodomor war vielleicht die größte humanitäre Katastrophe der Welt.
Andere Fachleute geben nur etwa ein Drittel bis halb so viele Tote an wie Sie.
Für mich ist die Zahl nicht das Problem. Wenn wir uns aber die Volkszählung von 1926 ansehen, dann kann mit gewisser Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass meine Zahl objektiv ist. Wenn wir die Zahlen von 1926 und 1937 vergleichen, zeigt sich, dass 1937 elf Millionen Ukrainer fehlten. Wir glauben, dass die Mehrheit der fehlenden Menschen verhungert ist. Die Tragödie war dabei kein Naturereignis. Sie war ein geplanter Mord. Sie ist damit auch eine Seite unseres Kampfes für unsere Unabhängigkeit. Die Bauern, die damals starben, waren zu Sowjetzeiten der unabhängigste Teil der ukrainischen Gesellschaft. Sie hatten Land und Vieh, sie waren unabhängig. Sie stellten die ukrainische Nation dar, und deshalb nennen wir ihre massenhafte Ermordung Völkermord. Zur gleichen Zeit aber, zu der täglich 25.000 Menschen verhungerten, haben die Behörden sechs Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine abgezogen. Das Ziel war, diese Nation loszuwerden.
Russland hat kürzlich eine Resolution der Vereinten Nationen zu dem Thema vereitelt und die ukrainische Erinnerungspolitik „obszön" genannt.
Es ist wichtig, dass die Vereinten Nationen den Holodomor zur Kenntnis nehmen. Ich bin deshalb dankbar für die Entscheidung der Europäischen Union, die Ereignisse von 1932/33 zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erklären. Wir beschuldigen aber nicht die russische Bevölkerung. Wir klagen nur das kommunistische Regime an.
War die Hungersnot nicht eine Tragödie der ganzen Sowjetunion?
Es stimmt, dass sie auch Russen und Kasachen traf. Aber was dort geschah, hatte andere Ausmaße und eine andere Struktur. Die Hungersnot in der Ukraine erfasste 13 000 Dörfer. Nur in der Ukraine gab es die Politik der „schwarzen Bretter" mit dem Ziel, eine maximale Zahl von Menschen zu töten. Ans „schwarze Brett" kamen Dörfer, die nicht genug Getreide ablieferten. Niemand durfte dann mehr ein- oder ausreisen. Alle Lebensmittel wurden fortgeschafft. Das „schwarze Brett" bedeutete den Tod. Millionen von uns versuchten, ihre Familien zu retten, anderswo hinzufahren. Aber auch das wurde verboten. So etwas gab es nirgendwo sonst. Das Ziel war, den Willen der Nation zu ihrer Souveränität zu brechen. Manchmal starben die Leute, während die Fabrik nebenan weiter aus Getreide Spiritus herstellte, weil man alles den Destillationsanlagen zur Verfügung stellte. Weil das so ist, beschädigt der Absagebrief Präsident Medwedjews das Andenken der Toten. Wir ehren alle, die damals gestorben sind - in der Ukraine, in Russland, in Kasachstan, in Weißrussland oder in Europa. Aber sollen diese Erinnerungen uns wirklich entzweien? - Ich glaube, das muss nicht sein.
Weil der künstliche Hunger damals auch andere Völker der Sowjetunion betraf, streiten die Wissenschaftler darüber, ob er tatsächlich als „Völkermord an der ukrainischen Nation" richtig beschrieben ist. Ist es nicht gefährlich, wenn ein Staatsoberhaupt als oberster Historiker auftritt und strittige Begriffe zur Staatsdoktrin macht?
Der Holodomor ist bei uns durch Gesetz als Völkermord definiert. Meine Aufgabe ist nicht, irgendwelche Auffassungen durchzusetzen.
Wie hat Ihre Familie den Hunger erlebt?
In meiner Kindheit horteten wir in meinem Heimatdorf Choruschiwka immer fünf bis sechs Säcke trockenes Brot im Keller. Wir hatten wenig zu essen, ich musste am Laden oft bis zu acht Stunden in Schnee und Regen Schlange stehen, um ein Stück Brot zu kaufen. Ich habe damals nicht verstanden, warum die Erwachsenen trotzdem diese Säcke nie anrührten. Wenn ich meine Großmutter fragte, sagte sie nur: Das musst du nicht wissen. Immer wenn wir gegessen hatten, strich sie nach Tisch die übrigen Brotkrumen in ihre Hand und aß sie. Wenn ich die Kühe zur Weide trieb, bemerkte ich, dass da so kleine Hügel auf der Wiese waren, und wenn ich die Großmutter fragte, sagte sie auch da wieder nur: Das musst du nicht wissen. Letztes Jahr fand man bei Charkiw bisher unbekannte Gräber von Hungertoten. Ich traf mich mit sechs Zeitzeugen und stellte fest, dass die meisten von ihnen ihre Aussagen nicht unterschreiben wollten. Als ich fragte, warum, sagten sie: Wir haben Angst. - Nach 75 Jahren! Wie meine Mutter, wie meine Oma, wie Millionen Menschen haben sie ein Leben in Angst hinter sich. Die Partei wollte eben nicht, dass diese Geschichten bekannt werden - genau wie jeder andere Verbrecher auch. Deshalb sage ich: Kommt in die Ukraine. Fragt die Zeugen. Informiert euch über die Kommunisten und ihre Verbrechen - und vielleicht werden unsere Kinder dann sicherer leben.
In meinem Dorf, in meiner Straße, fuhr jeden Tag ein Pferdekarren vorbei, um die Toten aufzusammeln. Im Herbst 1932 kamen dann schon zwei am Tag. Meine Oma sagte meiner Mutter damals: Geh nicht in die und die Straße. Dort gibt es eine Familie, die Kinder tötet und frisst.
Empfinden Sie Solidarität mit den Opfern in Russland und in Kasachstan?
Ich wollte der Opfer immer gemeinsam mit den Russen gedenken. Der Holodomor sollte uns alle zusammenführen. Wir sagen aber nicht, dass damals nur Ukrainer verhungert sind. Zu den Opfern gehörten auch Juden, Russen, Weißrussen, die damals in unseren Dörfern lebten. Wir ehren sie alle. Es ist nicht wichtig, zu welchem Volk wir gehören.
Streit über Erinnerung an die Hungersnot
Die Ukraine begeht am kommenden Samstag den 75. Jahrestag der großen Hungersnot von 1932/1933. Der „Holodomor" (ukrainisch für „Hungersterben") ist nach Ansicht der meisten Historiker seinerzeit vom sowjetischen Diktator Stalin bewusst herbeigeführt worden, um den Widerstand der ukrainischen und russischen, aber auch der weißrussischen und kasachischen Bauern gegen die damals befohlene Kollektivierung der Landwirtschaft zu brechen. Trotz der Bedeutung der Katastrophe für die sowjetische Geschichte hat der russische Präsident Medwedjew jedoch die Einladung zu der Kiewer Gedenkfeier ausgeschlagen, weil sie seiner Ansicht nach „darauf zielt, unsere Nationen zu entzweien, die über Jahrhunderte durch historische, kulturelle und geistige Bande sowie durch eine besondere Freundschaft und gegenseitiges Vertrauen geeint waren". Historiker haben für den Holodomor in allen Teilen der Sowjetunion - also einschließlich Russlands und anderer Republiken - Opferzahlen zwischen fünf und sieben Millionen Menschen errechnet. (ul.)